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Das dorische Dekret von Karpathos

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2017-11-26 2017-11-26 26.11.2017

Über das segensreiche Wirken des Arztes Menókritos Metrodórou

Der junge Wanderer hat sein Ziel fast erreicht: sein Blick geht hinunter zu der Landzunge am nordwestlichen Ende der Insel Karpathos. Hier liegt die alte Dorer-Stadt Vrykoús, die heute Vourgounda oder Vroukounda genannt wird. Dem antiken Geographen Strabon zufolge hat es auf Karpathos vier große Städte gegeben (Tetrapolis): Vrykoús, Nísyros (auf Saría), Arkeseía (Arkása) und Posideion (Pigádia). Die große Zahl an Inschriften, die man in Vourgounda und Umgebung gefunden hat, lässt die Bedeutung erahnen, die Vourgounda unter diesen vier Städten damals gehabt haben muss. Zahlreiche Grabkammern, Mauerreste und Befestigungsmauern sind noch erhalten. Ganz am Ende der Landzunge befindet sich die Höhlenkirche Agios Ioannis, wo alljährlich Ende August ein großes Panigiri mit Gottesdienst, Musik, Tanz, Essen und Trinken abgehalten wird. Übernachtet wird im Freien.

Rund 2300 Jahre früher. Gut möglich, dass an der Stelle, wo heute unser junger Wanderer den Blick über die grandiose Landschaft von Karpathos schweifen lässt, auch der aus Samos stammende Arzt Menókritos Metrodórou innegehalten und die Aussicht genossen hat, wenn er von seinen Krankenbesuchen nach Vrykoús zurückgekehrt ist. Er hat dort mehr als zwanzig Jahre lang als Gemeindearzt gearbeitet und konnte während einer Seuche viele Menschen vor dem Tod retten.

Überliefert ist uns sein Wirken durch die wohl berühmteste Inschrift von Karpathos, das sogenannte „Dorische Dekret von Karpathos“. Der karpathische Volkskundler Emmanuel Manolakákis hat die Inschrift um das Jahr 1860 gefunden. Über Alfred Biliotti (1883-1915), Archäologe und britischer Vizekonsul auf Rhodos, gelangte die Marmorstele 1864 ins Britische Museum nach London, wo sie sich heute noch befindet. Die Stele hat eine Höhe von 61 cm, der Anfang und das Ende der Inschrift sind leider nicht erhalten. Der französische Archäologe C. Wescher hat 1863 in der „Revue archéologique“ (Jg. 8, S. 469 ff.) zum ersten Mal den Text der Inschrift und eine Erläuterung dazu veröffentlicht. Er datiert die Inschrift in das 3. Jahrhundert v. Chr. und weist auf die große Zahl an Dorismen hin, die zur Bezeichnung „Dorisches Dekret von Karpathos“ geführt haben.

Neben der Beschreibung der segensreichen Tätigkeit des Menókritos und der ihm zugedachten Ehrungen erfahren wir aus der Inschrift auch, dass auf Karpathos Wettspiele zu Ehren des Gottes der Heilkunst Asklepios abgehalten wurden und dass damals ein Poseidon-Tempel an der Meerenge zwischen Karpathos und der Nachbarinsel Saría gestanden hat.

Ende des 7. Jh. oder im Laufe des 8. Jh. n. Chr. wurde die Stadt Vrykoús aufgegeben. Grund dafür waren wohl Überfälle durch Piraten, möglicherweise auch ein Erdbeben. Die Bewohner von Vrykoús sollen dann in die Berge geflüchtet sein und das Dorf Olympos gegründet haben.

Der Gemeindevorsteher von Olympos, Kóstas Tsambanákis, hat im Jahr 2009 das segensreiche Wirken des samischen Arztes Menókritos Metrodórou auf Karpathos zum Anlass genommen, eine Städtepartnerschaft mit der samischen Stadt Vathý einzugehen. Auf dem Festplatz vor der Höhlenkirche Agios Ioannis wurde 2008 eine Nachbildung des „Dorischen Dekrets“ aufgestellt, übrigens nicht nur im dorischen Dialekt, sondern auch mit einer Übersetzung ins Neugriechische und Englische. Die Rückgabe der Original-Inschrift an die Gemeinde Olympos lehnt das Britische Museum ab.

Nachfolgend die deutsche Übersetzung des „dorischen Dekrets von Karpathos“ mit dem Antrag eines Vrykountiers, den Gemeindearzt Menókritos zu ehren:

In Anbetracht,
dass Menókritos, der Sohn des Metródoros aus Samos, als Gemeindearzt mehr als 20 Jahre lang alle Kranken mit Eifer und Hingabe behandelt hat und sich sowohl in seinem ärztlichen Beruf als auch in seinem sonstigen Leben tadellos verhalten hat, dass er bei Ausbruch einer Seuche, die viele Einwohner, aber auch dort wohnende Fremde in höchste Gefahr brachte, durch seinen ganzen Einsatz und Aufopferung ihnen Rettung brachte, dass er, bevor er als Arzt bezahlt wurde, auf Rhodos (?) viele Bürger aus kritischem Zustand errettete ohne dafür eine Bezahlung anzunehmen und dass er auch jeden Bewohner der umliegenden Orte mit Liebe und Menschenfreundlichkeit besucht hat, beschließt die Gemeinde Vrykoús als Zeichen der Dankbarkeit und der Ehrerbietung gegenüber den gutherzigen Ärzten, nach der Bestätigung des Beschlusses, den Menókritos, Sohn des Metródoros aus Samos, zu ehren, ihn mit einem goldenen Kranze zu krönen und während der Asklepios-Spiele zu verkünden, dass die Gemeinde Vrykoús den Menókritos, Sohn des Metródoros aus Samos, lobt und mit einem goldenen Kranze auszeichnet wegen seiner beruflichen Tüchtigkeit und seiner Tugendhaftigkeit; außerdem soll ihm erlaubt sein, an den Festen der Vrykountier teilzunehmen; die entstehenden Kosten für den Kranz soll der Kassenverwalter bezahlen; nach der Bestätigung dieses Beschlusses soll die Gemeinde sofort einen Mann auswählen, der bei der gemeinsamen Versammlung aller Gemeinden [der Inseln Karpathos] den Antrag stellt auf Gewährung des Kranzes und zur Bevollmächtigung, im Heiligtum des Poseidon Porthmios eine steinerne Stele aufzustellen, auf der dieser Beschluss, mit dem die Gemeinde den Menókritos, Sohn des Metródoros aus Samos ehrt, eingeschrieben werden soll. Gewählt wurde … Sohn des ...

Der Artikel wurde zuerst veröffentlicht im "Bulletin" der Hellasfreunde Bern 2013-3 (Dezember 2013)